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Lesung und Rezension zu Milena Michiko Flašars Roman »Herr Katō spielt Familie«

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Lesezeit: ca. 8 Minuten (300 WpM)

Milena Michiko Flašar beleuchtet in ihrem Roman »Herr Katō spielt Familie« das Thema Einsamkeit auf ungewöhnliche Weise. Herr Katō wird mit dem aktuellen japanischen Trend der gemieteten Familienangehörigen, der sogenannten Stand-Ins, konfrontiert, als ihm selbst ein solches Jobangebot unterbreitet wird. Wie der eben noch so selbstmitleidige Rentner mit diesem Thema umgeht, wird von Milena Michiko Flašar auf gleichermaßen liebevolle wie humorvolle Weise erzählt.

Handlung (Verlagstext):Endlich Zeit. Er könnte nun das alte Radio reparieren oder die Plattensammlung ordnen. Doch als er der jungen Mie begegnet, die ihm ein seltsames Angebot macht, beginnt er die Dinge anders zu sehen. Ein zarter Roman über einen späten Neuanfang und über das Glück. Die Tage dehnen sich, und zugleich schnurrt die Zeit zusammen. Die Uhr läuft ab, dabei könnte es gerade erst losgehen. Ob ein kleiner weißer Spitz daran etwas ändern würde? Den ehemaligen Kollegen hat er immer beneidet. Um den Ruhestand, das Motorrad und die neue Freiheit. Doch jetzt steht er selbst frisch verrentet auf den bemoosten Treppen vor seinem Haus und weiß nicht wohin. Eine Krawatte braucht er nicht mehr, zu Hause ist er im Weg, die Kinder sind längst ausgezogen. Ob die junge Frau, die er jüngst auf dem Friedhof getroffen hat, ihm nur etwas vormacht, vermag er nicht zu sagen. Er ist aus der Übung. Und dennoch nimmt er ihren Vorschlag an, lässt sich von ihrer Agentur »Happy Family« mal als Opa, mal als Exmann, dann wieder als Vorgesetzter engagieren und trifft auf fremde Menschen und Schicksale. Er spielt seine Rollen gut, und seine Frau bekommt von alledem nichts mit. Sie hat wieder angefangen zu tanzen Ein nachdenkliches Buch über Erinnerungen und unerfüllte Träume, über Glücksmomente und Wendepunkte. Milena Michiko Flasar zeichnet mit wenigen Strichen, beredten Bildern und unnachahmlicher Wärme ein ganz gewöhnliches, ganz einzigartiges Leben.

2012 erschien Milena Michiko Flašars Debütroman »Ich nannte ihn Krawatte«, der sofort ein großer Erfolg wurde und u. a. für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Inzwischen ist das Buch auch in Japan erschienen und wurde dort ebenfalls sehr positiv aufgenommen. Sie hätte so lange gebraucht, einen neuen Roman zu schreiben, erklärte die Autorin, weil sie – auch aufgrund vieler Lesungen – gedanklich noch zu verfangen in ihrem Erstling war und auf keinen Fall auf das gleiche Thema zurückgreifen wollte. Mit »Herr Katō spielt Familie« ist ihr dies bestens gelungen.

Ein Mann erfährt die Sinnlosigkeit seines Daseins in einer Welt, die ihn nicht mehr braucht. Er trauert dem Unwiederbringlichen hinterher und fragt sich, wo sein Platz in der Familie ist, die plötzlich seine neue und einzige Welt ist.
Bei der Erwähnung des Retired Husband Syndrome (kurz RHS) fühlen sich viele Deutsche sicher sofort an Loriots Erfolgsfilm »Pappa ante portas« erinnert, der auf sehr humorvolle Weise zeigt, wie schwierig der Umgang mit dem plötzlich “überall im Weg stehenden” Ehemann in Rente für die Ehefrau sein kann. Der Renteneintritt des Ehemannes kann Einfluss auf die psychische Gesundheit der Frau haben, wie Wissenschaftler in einer Langzeitstudie herausfanden. Einen Bericht aus DIE ZEIT finden Sie hier. Während der Lesung verriet Milena Michiko Flašar zwei Begriffe aus dem japanischen für Männer in Rente: 1. feuchtes Laub, weil sie an den Schuhen der Frauen kleben und 2. Sperrmüll, weil niemand weiß, wohin mit ihnen.
Während die Frauen oft am RHS leiden, befällt der sogenannte Pensionsschock vorwiegend Männer, wenn sie merken, dass sie sich ohne ihre Arbeit nutzlos und unwichtig fühlen.

Er gibt sich den Anschein, ein Ziel zu haben. Mit großen Schritten geht er los, als ob dort, wohin er geht, jemand warten würde und es von höchster Dringlichkeit wäre, rechtzeitig hinzugelangen. Müßig spazieren zu gehen, einfach so, um des Gehens willen, hat er probiert – kann er nicht. […] Seine Frau […] schickt ihn jeden Tag vors Haus. Er solle doch eine Runde drehen. Ihr nicht im Weg sein, will sie damit sagen. So gut kennt er sie.
Teil 1 / Seite 9 + 10

Herr Katō wünscht sich einen Hund, einen kleinen weißen Spitz, aber seine Frau ist dagegen, weil der Hund viel Geld kosten würde, sie ihr Herz an ihn hängen würden, der Hund Schmutz machen würde und sie keinen Urlaub mehr machen könnten. Da sie ohnehin nie in den Urlaub fahren, verstummten sie und sprachen nicht mehr über den Spitz.

»Manchmal passiert es ihm aber, zum Beispiel beim Essen, und seine Frau scheint es zu merken an der Art, wie er nach ein bisschen mehr Salz verlangt. Eigentlich schön: Sie sind ein eingespieltes Team. Er denkt an etwas. Sie merkt es. Er merkt, dass sie es merkt. Und auch wenn keiner von ihnen ein Wort darüber verliert, ist es, als ob sie einander über den Tisch hinweg anschreien würden.«
Teil 1 / Seite 10

Für die Figur des Herrn Katō entschied sich die Schriftstellerin, weil es jemand sein sollte, in dessen Macken die Leser sich selbst oder Bekannte wiedererkennen. Ganz bewusst erzählt sie den Roman gänzlich aus der Sicht des Mannes, denn da Frau Katō eine sehr starke Persönlichkeit ist, hätte es zu Gehässigkeiten kommen können, die sie nicht auf diese Weise thematisieren wollte. Für ihre Hauptfigur hegte Milena Michiko Flašar viel Sympathie:

»Ich mochte ihn von Anfang bis zum Ende, gerade weil er jemand mit Macken und Fehlern ist.
Seine Hilflosigkeit ist immer spürbar und macht ihn als Figur auch sympathisch.«

Tatsächlich ist Herr Katō ein Mann mit Ecken und Kanten und auch mit vielen unerfüllten Sehnsüchten. Jeden Tag grüßt er die Mäuse auf der Brache in der Nähe seines Hauses, denn er ist auch erfüllt von Zwängen und Aberglauben. Am liebsten würde er seine unerträglich langen Tage damit zubringen, auf einer Bank zu sitzen und über die Welt nachzudenken. Unglücklich macht ihn auch der Zustand seiner Ehe. Auseinander gelebt und in verschiedenen Zimmern schlafend, teilen Mann und Frau Katō zwar ihre Tage und Nächte neben- aber nicht miteinander. Er wünscht sich, dass seine Frau ihn wieder einlässt in ihren Blick, wie Milena Michiko Flašar erklärte. Die schönsten Momente für das Ehepaar wären dann, wenn sie beide in eine Richtung schauen und sich zusammengehörig fühlen könnten. Doch diese Augenblicke sind selten. Herr Katō hätte sich wirklich gewünscht, sein Arzt hätte ihm mittelschwere Beschwerden diagnostiziert. So hätte er wieder Zuwendung von seiner Familie erfahren, wäre wichtig gewesen.

[…] er fragt sich, warum er selbst nicht dazu fähig ist, trotz der ihm attestierten Gesundheit unterm Arm, den schon etwas knittrig gewordenen Befunden, vollkommen unfähig zu lächeln? Oder gerade deshalb vielleicht? Weil er nichts vorzuweisen hat? Nichts, was er zu Hause auf den Esstisch legen könnte, mit gewichtiger Miene, was ihn dazu berechtigen würde, Frau und Kinder um sich zu versammeln und ihnen zu eröffnen, dass von jetzt an – jetzt! – alles anders werden müsse.
Teil 1 / Seite 18

Der Roman stellt die Frage nach der Authentizität innerhalb der Familie und sogar gegenüber uns selbst. Die fortschreitende Einsamkeit in der Gesellschaft wird immer öfter durch sogenannte Stand-Ins als Füllmasse überdeckt. In der Dokumentation »Rent a Family« wird dies eindrucksvoll gezeigt. Firmen wie die im Roman beschriebene Firma »Happy Family« sind in Japen schon Normalität und werben damit, Einsamkeit heilen zu können. Der 2011 erschienene Film »Alpen« zeigt trauernde Menschen, die sich einen Stand-In bestellen, der schweigend die Position des Verstorbenen einnimmt. Besonders “in” ist es momentan, sich Freunde zu mieten, die für Selfies zur Verfügung stehen.
Wie viel ist noch echt in einer Gesellschaft, in der so viele Menschen sich als jemand anderes ausgeben, wie die Dokumentation es zeigt? Wie wichtig echte persönliche Kontakte sind und dass echte Menschen durch einen Stand-In eben doch nicht ersetzt werden können, macht die Österreicherin am Ende des Buches deutlich.

Einsamkeit ist das Hauptthema ihres Romans, der dieses gesellschaftliche Problem von mehreren Seiten beleuchtet. Herr Katō spielt zwar für andere Familie, ist einmal der liebe Großvater, einmal ein jovialer Chef oder ein Ehemann, der endlich einmal nur zuhört, aber im Grunde sind diese Momente für ihn mindestens so wichtig wie für die Kunden selbst. Denn er ist auch einsam, nicht nur in seiner Ehe und nicht erst seit er im Ruhestand ist. In dieser Einsamkeit vertraute er sich einmal einem Taxifahrer an und freut sich noch immer, dass es da draußen einen Menschen gibt, der etwas von ihm weiß und es für ihn verwahren wird. In all seinem Denken schwingt immer auch die Angst vor dem Tod mit, davor, im Leben nicht das erfüllt zu haben, was er sich vorgenommen hatte oder für die Nachwelt noch Bedeutung zu haben.

Als Mie in Herrn Katōs Leben tritt und ihm ein Jobangebot unterbreitet, ist der Rentner zwar anfangs schockiert von dem Vorschlag, für Fremde Familienmitglieder zu spielen, andererseits scheint er auf eine große Veränderung in seinem Leben nur gewartet zu haben. Nach einem weiteren Treffen mit Mie sagt er zu – ohne seine Frau von seinem Vorhaben zu informieren. Gleich in der ersten Rolle, in der er einem kleinen Jungen einen liebevollen Großvater vorspielen soll, weil der echte Großvater das Kind nicht sehen will, geht Herr Katō voll auf. Er findet so viel Vergnügen daran, dass er sich nur schweren Herzens wieder lösen kann.

Noch schwieriger wird es, als Herr Katō einen Ehemann spielen soll, der einfach nur zuhört und nichts sagt. Die Frau findet so den Mut, endlich all die Dinge zu sagen, die sie ihrem Mann nie sagen kann, weil dieser sie verbal unterdrückt. Wie weit das Spiel geht, überraschte mich ebenso wie Herrn Katō.

Sie löst ihren Arm aus seinem und greift sich an den Hals mit ihrer ausradierten Hand, doch sie bekommt ihn nicht weg, den Kloß, der sich darin gebildet hat, selbst jetzt nicht, wo ihr Widerpart gar nicht da, nur ein Hirngespinst ist.
Teil 2 / Seite 92

Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Anne-Dore Krohn (links) – Foto: Laila Mahfouz

Schon die dritte Rolle, die Herr Katō übernimmt, wirkt wie der Anfang vom Ende und tatsächlich scheint das Rollenspiel zumindest für Mie bald vorbei zu sein. Herr Katō aber hat ganz neue Erfahrungen gemacht und viel aus den unterschiedlichen Leben gelernt. All das hat ihn emotional reicher gemacht und weicher, achtsamer und verständnisvoller.
Als seine Tochter ihm wieder ein Stück näher kommt, erkennt er, dass auch er eine Familie hat, für die es sich zu kämpfen lohnt und dass auch er dafür aus seinen festen Bahnen heraustreten muss. Das Buch endet sehr hoffnungsvoll, so dass für das Ehepaar Katō das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Etwa 37,5 Millionen Menschen leben in der Metropolregion Tokio auf engstem Raum. In dieser somit einwohnerreichsten Stadt der Welt ist es dennoch eher still. Nicht einmal an den Ampelübergängen großer Kreuzungen berührt man sich, erzählte Milena Michiko Flašar. Das Miteinander sei viel organisierter als bei uns, dafür gäbe es immens viele Regeln des Zusammenlebens. Obwohl der Heimatort von Herrn Katō also sehr speziell und anders als die uns bekannte Umgebung ist, sind die Personen, ihre Gefühle und Reaktionen so universell, dass eine eventuell anfangs auftretende Fremdheit sich beim Lesen sofort auflöst.

Fazit: »Herr Katō spielt Familie« ist ein Gesellschaftsroman mit einem ungewöhnlichen Plot. Dass es vollkommen üblich sein kann, Freunden fremde Menschen als nahe Angehörige zu präsentieren, erscheint zwar im Einzelfall nachvollziehbar, in Gänze aber doch entsetzlich. Milena Michiko Flašar hat das Thema ihres zweiten Romans sehr sorgfältig gewählt und wie sie es umsetzt, ist wirklich sehr gelungen. »Herr Katō spielt Familie« hätte jedoch gern doppelt so lang sein können, denn diese Thematik birgt so viel Potential, dass es ein noch größeres Vergnügen gewesen wäre, Herrn Katō etwas länger und intensiver zu begleiten. Für alle, die sich für die japanische Kultur interessieren, ist der Roman sehr empfehlenswert, aber auch allen, die sich für neue Blickwinkel und ungewöhnliche Handlungsstränge begeistern können, möchte ich die Lektüre ans Herz legen.

Milena Michiko Flašars Roman »Herr Katō spielt Familie« ist im Februar 2018 für EUR 20,00 im Wagenbach Verlag erschienen – gebunden, 176 Seiten, ISBN 978-3803132925.


Über die Autorin: Milena Michiko Flašar ist 1980 in St. Pölten geboren. Ihr Roman »Ich nannte ihn Krawatte« wurde über 100.000 Mal verkauft, als Theaterstück am Maxim Gorki Theater uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Er stand unter anderem 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien.


Laila Mahfouz, 26. Oktober 2018

Links:

Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz.

Informationen auf den Seiten des Wagenbach Verlages finden Sie hier.

Weitere Informationen zu Milena Michiko Flašar finden Sie hier.

Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.


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